Bericht von unserer Nachlese Bundestagswahl am Mi 2. Oktober 2013 „Was bleibt nach der Wahl?“
Oskar Niedermayer, Professor für Empirische Politische Soziologie an der FU Berlin, brachte es auf einen knappen Nenner: „Die SPD hat einen falschen Wahlkampf geführt.“ Ihre Kernkompetenz, die soziale Gerechtigkeit, sei zu wenig herausgestellt worden, sagte er in seiner Analyse zum Bundestagswahlergebnis beim August Bebel Institut. Mit Sorge betrachtet Hakan Demir, Herausgeber des Online-Magazins „Migazin“, das Ergebnis. Er fürchtet vor allem in der Integrationspolitik vier Jahre Stillstand.
Das Ergebnis, so Prof. Dr. Niedermayer, sei nicht unerwartet gekommen. Die langfristigen Parteibindungen hätten immer stärker abgenommen, kurzfristge Faktoren bekommen mehr Bedeutung. Dazu gehören die Übereinstimmung der Wählerinnen und Wähler mit den Sachthemen ebenso wie die Orientierung auf den Kandidaten.
SPD hat ihre Kernkompetenz nicht genutzt
In der Kanzlerpräferenz habe Peer Steinbrück bei seiner Nominierung bereits hinter der Amtsinhaberin gelegen, die Debatte um seine Honorare habe ihm vor allem deshalb geschadet, weil sie nicht mit dem Thema Soziale Gerechtigkeit, der Kernkompetenz der SPD, zusammengepasst habe. Und während Angela Merkel stets über 90 Prozent der CDU-Anhängerschaft hinter sich habe versammeln können, sei Peer Steinbrück anfangs nur von zwei Dritteln, zum Schluss von drei Vierteln der SPD-Anhängerschaft unterstützt worden. Der Abstand habe sich erst nach dem TV-Duell etwas verringert, das den Blick stärker wieder auf die eigentlichen Themen der SPD gelenkt habe. Aber dieser positive Eindruck sei am Wahltag schon wieder vergessen gewesen.
Das mehrwöchige Thematisieren des NSA-Skandals, an dem nur wenige Prozent der Bevölkerung interessiert waren, habe der SPD ebenso wenig genutzt wie die ironisch-kritischen Plakate zur Kanzlerin. Zudem kritisierte Niedermayer die „mürrischen Gesichtsausdrücke“ auf den Plakaten der SPD. Aber auch die textlastigen Plakate der Linken hätten allen Erkenntnissen der Werbepsychologie widersprochen.
Die Grünen, so Niedermayer, hätten mit der Steuerfrage versucht, sich neben SPD und Linken ebenfalls als eine Partei der sozialen Gerechtigkeit zu positionieren statt ihre Kernkompetenz bei der Energiewende zu nutzen. Zwar sollte die geplante Steuererhöhung der Grünen nur zehn Prozent der Bevölkerung treffen, gerade unter diesen tatsächlich Besserverdienenden aber hatten die Grünen bislang überdurchschnittliche Ergebnisse, so Niedermayer. Der „Veggie-Day“, wenn auch völlig anders gemeint, sei von den Wählerinnen und Wählern als Beleg für die Bevormundung durch die Grünen gewertet worden. Dazu habe gerade in der Schlussphase des Wahlkampfs die Pädophilie-Debatte den hohen moralischen Anspruch der Grünen erschüttert. Die CDU habe dagegen in ihrer auf Bestätigung angelegten Kampagne keine wirklichen Fehler gemacht.
Die FDP, so Niedermayer, habe auf keine Kernkompetenzen mehr setzen können, ihr Spitzenpersonal wurde zudem in allen Umfragen negativ bewertet, ihr Spitzenkandidat Brüderle gehörte nicht einmal mehr zu den zehn bedeutendsten Politikern. Der FDP blieb letztlich gar nichts anderes übrig als eine hilflose Zweitstimmenkampagne.
Integrationspolitik blieb ausgespart
Mangels entsprechender Umfragedaten kann über das Wahlverhalten von Wählerinnen und Wählern mit Migrationshintergrund – und damit auch über mögliche Veränderungen – kaum eine Aussage getroffen werden. Integrationspolitische Themen sind in diesem Wahlkampf kaum angesprochen worden, bemängelte Hakan Demir. Die SPD habe immerhin mit verschiedensprachigen Materialien eine gezielte Ansprache vorgenommen. Themen wie die doppelte Staatsbürgerschaft müssten von der SPD nun auch in Sondierungen oder mögliche Koalitionsverhandlungen eingebracht werden.
Wie nun mit dem Ergebnis umzugehen ist, stand im Mittelpunkt der Diskussion. Oskar Niedermayer stellte zwar eine große Skepsis in der Funktionärsschicht der SPD gegenüber einer großen Koalition fest. In der Bevölkerung sei sie aber mit Abstand die Wunschkoalition. Neuwahlen sind aus seiner Sicht kein Ausweg. Die Partei, der die Schuld an Neuwahlen gegeben werde, werde „abgestraft“, so Niedermayer.
Da eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei vor der Wahl ausgeschlossen wurde, sei sie jetzt keine politische Option, wenn die SPD sich nicht den massiven Vorwurf des Wortbruchs einhandeln wolle. Dies würde von der Mehrheit der Bevölkerung auch anders bewertet als ein Kompromiss in Sachfragen, erklärte Niedermayer.
In Westdeutschland fehle es der Linken zudem noch immer an Akzeptanz. Es diene auch nicht dem Aufbau von Vertrauen, wenn die Linke jetzt versuche, die SPD vorzuführen, indem sie entgegen allen parlamentarischen Gepflogenheiten vorschlage, vor einer Regierungsbildung den Mindestlohn im Bundestag zu beschließen. In Zukunft werde es sicher keine solchen Festlegungen mehr geben, zeigte sich Niedermayer überzeugt. Das sei aber keine Frage, die nur die SPD betreffe, auch die Linke müsste sich bewegen.
Rechnerische oder politische Mehrheit
Ohnehin zeigte sich Niedermayer skeptisch gegenüber dem, was derzeit als „linke Mehrheit“ bezeichnet wird. Es gebe eine rechnerische linke Mehrheit, solange eine politische ausgeschlossen werde. Werde die politische Mehrheit angestrebt, würde es keine rechnerische mehr geben, so Niedermayers Prognose. Ulrich Horb o
Aus: BERLINER STIMME 20-2013 vom 12. Oktober 2013